Man sieht immer wieder, dass Mikrofone „auf dem Kopf“ betrieben werden. Das Kopfüber wird viel diskutiert, unter Anfängern genauso wie unter den Engineers, die Flöhe husten hören (und sogar jenen, die am Husten von Flöhen erkennen, ob es eher viral oder bakteriell ist…). Hier will ich deshalb kurz das Für und Wider besprechen.
Mikrofon verkehrt herum: Pro-Argument #1: Abwärme
Ein wesentlicher Grund, ein Mikrofone verkehrt herum zu betreiben, ist ein technischer: Die Elektronik im Mikrofon produziert im Betrieb Wärme. Diese Wärme kann sich auf die Membran übertragen, die dann durch die bei höheren Temperaturen stärkeren Teilchenbewegungen etwas mehr Rauschen produziert. Außerdem sind Verwirbelungen durch Bewegungen von Luft unterschiedlicher Temperatur – wie wir es etwa über Heizkörpern beobachten können – auch akustische Phänomene möglich: Durch unterschiedliche Dichte entsteht ein unterschiedlicher Brechungsindex, was Auswirkungen auf die Art und Weise haben kann, wie Schall direkt vor der Kapsel anliegt.
Kommentar: Es sind fast immer nur Röhrenmikrofone, die wirklich in relevantem Maße Wärme produzieren – und auch hier gibt es deutliche Unterschiede. Zu vernachlässigen ist das sicher nicht – Sony hat beispielsweise sein C800G mit einem riesigen Kühlkörper ausgestattet, der hinten weit aus dem Gehäuse herausragt. Ich selbst konnte in Direktvergleichen aber keine Unterschiede in der Performance von Mikrofonen feststellen. In einem Blindtest konnte ich auch bei mehreren Signalen nicht erkennen, ob das Mikrofon verkehrt oder richtig herum eingespannt war. Allerdings wird das Mikro, mit dem ich das gemacht habe (MG UM 92.1S), auch nicht so warm wie manche anderen. Was man jedoch gelten lassen kann, ist das Argument “Sicher ist sicher”!
Mikrofon verkehrt herum: Pro-Argument #2: Bewegungsraum für den Sänger
Wird das Gesangsmikrofon von oben abgehängt, bleibt der Raum darunter frei. So wird also eine Aufnahme nicht so schnell dadurch unbrauchbar, dass der Vokalist mit dem Fuß oder der Hand gegen den Mikrofonständer kommt und Trittschall produziert oder sich im Kabel verhakt und damit das teure Mikro gen Studioboden steuert. Auch psychologisch ist das vorteilhaft: Etwas der Einengung im Studio fällt weg, es ist Platz zum Gestikulieren.
Kommentar: Das mit der „gefühlten Freiheit“ bei der Aufnahme ist nicht zu unterschätzen. Das kann eine gute von einer umwerfenden Performance unterscheiden. Wichtiger finde ich aber den Sicherheitsaspekt. Eine tolle Aufnahme in die Tonne drücken zu müssen oder klein-klein reparieren zu müssen, das schmerzt. Und ein umgefallenes, edles Röhrenmikrofon schmerzt auch. Ach ja: Mit einem ganz normalen Mikrofongalgen kann man auch bei herkömmlichem Aufbau schon genug Freiraum schaffen. Und diesen Freiraum kann man sich hervorragend wieder verbauen, indem man beispielsweise einen Ständer mit Notentexten aufbaut.
Mikrofon verkehrt herum: Pro-Argument #3: Vocal-Sound
Sicher lässt sich ein Mikrofon in beide Richtungen aus dem Lot bringen, doch tendiert man bei umgedrehten Mikrofonen eher dazu, sie nach unten zu winkeln statt nach oben. Bei Mikros auf einem einfachen Stativ ist das anders herum. Hier zielen die meisten Engineers eher von unten auf den Kopf. Auch ob die Reflexionen eher von der Decke oder dem Boden kommen, könnte bei unterschiedlich angewinkelten Mikros einen Unterschied machen. Durch den Mikrofonkorpus besonders bei großen Mikrofonen und den „Teller“, der die Kapsel von der Elektronik abtrennt, ist ein typisches Großmembran-Kondensatormikrofon auch nicht absolut rotationssymmetrisch. Und der Mensch als Schallquelle ist es auch nicht, ein Teil Signale wird vom Kopf und vor allem vom Brustkorb abgegeben. Insofern kann es schon verschiedene Auswirkungen haben, ob das Gehäuse vor dem Brustraum liegt und dort der Metalltubus und das innenliegende Luftvolumen stärker angeregt werden. Außerdem sind Röhren immer zu einem gewissen Grad mikrofonisch, was dafür spricht, sie aus der Schusslinie zu nehmen.
Kommentar: Hier kommt es auf die Stimme, die Aufnahmekette und den gewünschten Vocalsound an, denn die jeweiligen Einflüsse können ja auch positiv sein. Aber sind wir mal ehrlich: Die beschriebenen Effekte sind absolut verschwindend gering. Besonders bei sehr sonoren Männerstimmen in Verbindung mit Röhrenmikrofonen könnte man ausprobieren, ob man einen signifikanten Unterschied hört.
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Mikrofon verkehrt herum: Contra-Argument #1: Das Mikrofon verbaut den Blickkontakt zwischen Engineer und Sänger
Stimmt: Wenn man ein Mikrofon von oben herabführt, glotzt der Sänger auf das Mikro. Die Augen sind schließlich weiter oben als der Mund. Man kann also nicht mehr gemütlich über das Mikro zum Tontechniker oder Produzenten blicken. Und Kommunikation ist wichtig!
Kommentar: Die Augen sind weiter oben als der Mund? Ach, echt? Und was ist, wenn man einen Gruftie-Sänger im Vampirstyle aufnimmt, der sich an die Studiodecke hängt? Haha. Die wichtigere Frage bei dem Contra-Argument ist, ob Blickkontakt überhaupt gewünscht ist. Vocalaufnahmen sind meist so eine intime Angelegenheit, dass die meisten Interpreten lieber für sich wären statt in die kritischen Gesichter im Regieraum zu blicken und sich beobachtet zu fühlen. Es ist eher wichtig in Aufnahmepausen bei der Besprechung. Aber auch hier: Ist das wirklich so wahnsinnig ausschlaggebend? Eher nein.
Mikrofon verkehrt herum: Contra-Argument #2: Das liebe Geld!
Ganz einfach: Es ist simpler, stabiler und vor allem deutlich preiswerter, ein Mikrofon einfach nur auf einen geraden Mikroständer zu pflanzen, als es von oben abzuhängen.
Kommentar: Es macht bei kaum einem Mikrofonständer mit Galgen etwas aus, ob er nun 15 Zentimeter mehr oder weniger ausgezogen wird. Bei besonders langen Mikrofonen, man denke an alte Röhrenmikrofone mit Winkelanschluss am Fuß, beträgt der Unterschied manchmal allerdings bald einen halben Meter. Und es gibt eben sehr leichte und sehr schwere Mikros. Besonders manche Bändchenmikrofone mit großen, schweren Magneten werden am sichersten mit einem Baukran abgehängt.
Mikrofon verkehrt herum: Contra-Argument #3: Prollfaktor zu hoch
Ein umgedrehtes Mikro sieht direkt übertrieben wichtigtuerisch aus. Dieser Riesenaufwand, wenn man das Mikrofon doch auch einfach auf ein Stativ pflanzen kann…
Kommentar: Ja, da ist was dran. Aber Ego ist alles, und manche Musiker finden genau das ja vielleicht ganz gut.
Mikrofon verkehrt herum: Contra-Argument #4: Abstandssache
Manche meinen, das Abstandhalten sei schwerer bei abgehängten Mikrofonen. Und Abstand ist wichtig für den Sound, sonst muss der Engineer nachher sehr viel werkeln.
Kommentar: Nun mal langsam mit den jungen Pferden! Abstandhalten kann man als Sänger, sonst hilft zur Sicherheit ein Poppschutz. Und Markierungen auf dem Boden gibt es nicht nur im Film und auf der Bühne!
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Mikrofon verkehrt herum: Contra-Argument #5: Die Spinnen sind nicht dafür ausgelegt
Mikrofone werden meist richtig herum in ihre elastischen Halterungen eingesetzt. Wenn man sie verkehrt herum betreibt, kann doch was kaputtgehen oder das Mikrofon herausfallen.
Kommentar: Ach, echt? Die meisten Spinnen werden sowieso fest mit dem Mikrofon verschraubt oder gegen den Body gedrückt. Ob das Gewicht dann nach „oben“ oder „unten“ zieht, ist da unerheblich.
Mikros umgekehrt benutzen: Fazit
Ihr seht: Vieles ist nicht so wichtig, hebt sich gegenseitig auf oder ist stark situationsabhängig. Im Zweifel: Nehmt euch die Zeit und probiert es aus, achtet auf das Rauschen und schaut, dass sich der Mensch vor dem Mikrofon wohl fühlt. Als Faustregel kann man gelten lassen, dass man große Röhrenmikros eher umgekehrt betreibt.
Werner3000 sagt:
#1 - 10.02.2017 um 10:05 Uhr
Bin "Amateur" aber Mikrofon verkehrt herum hat doch den Vorteil, dass e.g. "P, T" Laute die von Mund nach schräg unten (!) verlaufen (Test mit Hand) ...ergo weniger Druckstoßwellen auf Mikrofon treffen, wenn Mic verkehrt herum aufgehängt wird ...da die Druckstoßwelle dann nach unten ins Leere geht ;)
(vorausgesetzt verkehrt rum Mic ist hoch genug, (Mundhöhe ca. Oberkante Mikrofon ), ....ob das bei jedem Sänger so ist kann ich allerdings nicht beurteilen...;)..wäre interessant was Profis dazu sagen...?
Nick (Redaktion Recording) sagt:
#1.1 - 13.02.2017 um 09:53 Uhr
Hallo Werner,ja, prinzipiell kann ich Dir beipflichten: Man sollte immer schauen, das Mikrofon aus der Schusslinie der Wellenfronten zu nehmen, denn besonders P-Laute können verheerende Folgen haben. Allerdings ist das von Mensch zu Mensch verschieden, bei einigen geht der Luftstoß dann nämlich durchaus nach oben! Hier hilft einfach Beobachtung oder tatsächlich, den Vokalisten gegen die Hand singen zu lassen. Manche erfahrene Sänger können die P-Laute gezielt am Mikrofon vorbeisingen, bei manchen kann man das Mikrofon auf einen Mundwinkel zielen lassen, ohne dass sie direkt Schlagseite befürchten und den Kopf der lieben Symmetrie willen wider axial zum Mikrofon drehen. Wieder andere schaffen es, die Lippen beim P so breit zu machen, das so gut wie kein starker Luftstoß entsteht. Und außerdem gibt es ja noch Poppfilter. Gerade die "externen", also vor das Mikrofon gehängten, machen hier meist einen guten Job.Beste Grüße,
Nick Mavridis (Redaktion Recording)
Antwort auf #1 von Werner3000
Melden Empfehlen Empfehlung entfernenAndri sagt:
#2 - 08.05.2017 um 14:31 Uhr
Was hier nicht erwähnt wird: Die Kapsel rauscht nicht nur stärker von der Abwärme der Röhre, sie altert je nach Beschichtung auch schneller.
Nick (Redaktion Recording) sagt:
#2.1 - 08.05.2017 um 15:19 Uhr
Hallo Andri,danke für Dein Kommentar! Tatsächlich, das ist ebenfalls ein schlagkräftiges Argument. Beispielsweise PVC-Membranen haben ja durchaus eine nicht zu vernachlässigende Alterungsproblematik, da sollte man nicht noch zusätzlich eine ständige Kneipp-Kur (warm/kalt…) veranstalten.Übrigens habe ich auf unserer Facebookseite einen lustigen Kommentar gelesen, den ich hier auch mal kundtun will: "Fließt der Sabber besser raus. #umgekehrt" :-DBeste Grüße,
Nick Mavridis (Redaktion Recording)
Antwort auf #2 von Andri
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