Im Unterricht und bei Workshops mache ich immer wieder die Erfahrung, dass Schülerinnen und Schüler sich mit dem Satz vorstellen: “Ich kann aber keine Noten lesen!” Das Notenlesen scheint also immer noch als grundlegende Voraussetzung für das Lernen eines Instruments in den Köpfen verankert zu sein. Das hat natürlich einiges mit dem Musikunterricht in der Schule zu tun. Eine andere Schreibweise für Musik ist die Tabulatur – auch TABs genannt – die vor allem mit dem aufkommenden Internet immer mehr an Bedeutung erlangte. Aber: Sind TABs eigentlich besser als Noten? Oder gibt es Raum für beide Systeme? Oder braucht man gar eventuell keines von beiden? Auf diese und weitere Fragen wollen wir in diesem Artikel eingehen.
Müssen Musiker:innen Notenlesen können?
Paul McCartney gilt als der größte Songschreiber der Pop- und Rockgeschichte, ist für unzählige Welthits verantwortlich, und erlangte durch die Musik zu hohem Wohlstand. Laut eigenen Angaben kann der Ex-Beatle jedoch keine Noten lesen! Welche Argumente gibt es dann eigentlich dafür, wenn man auch ohne Notenlesen reich und berühmt werden kann? Wie immer hängt alles sehr stark vom Kontext ab, in welchem man sich bewegt – und natürlich ebenso von den eigenen Zielen und Ansprüchen.
Musik verhält sich in zahlreichen Aspekten analog zu einer Sprache: Als Kinder lernen wir diese über die Ohren und versuchen, das Gehörte nachzuahmen. Lange Zeit, bevor wir lesen und schreiben lernen, können wir die Sprache fließend sprechen. Gleiches gilt für Musik: Wir lernen sie bestenfalls über die Ohren, da hier auch Vieles transportiert wird, was man nicht in Noten fassen kann, z. B. ein bestimmtes Feeling etc. Die Fähigkeit, Musik lesen zu können, ist nicht zwingend notwendig, um sich auszudrücken – egal ob in Musik oder Sprache. Logischerweise kennen wir alle aber auch Situationen, in denen wir uns schon einmal gewünscht haben, eine Sprache auch durch Lesen verstehen zu können.
Grundsätzlich lässt sich also sagen, dass Notenlesen in keinem Fall eine Voraussetzung ist, um ein Instrument zu spielen. Man kommt wunderbar ohne diese Fähigkeit aus, ohne Abstriche machen zu müssen. Dennoch gibt es Situationen, in denen die Dinge durch Notenlesen enorm beschleunigt werden können – oder in denen Notenlesen tatsächlich nicht nur hilfreich, sondern sogar notwendig wird!
Notenlesen vs. Tabulatur – eine Frage der Situation?
Schauen wir uns zunächst ein paar musikalische Szenarien an, die mit TABs (und eventuell auch ohne diese) und somit ohne Notenlesen bestens funktionieren:
Für dich ausgesucht
- Eigene Band, mit eigenen Songs unabhängig von Stilistik
- Coverband
- Jam-Sessions
- Üben zu Songs oder YouTube-Videos etc.
Strebt man folgende Szenarien an, ist Notenlesen indes häufig erforderlich:
- Jazz Band
- Big Band
- Chorbegleitung
- Musicals
- Studio-Jobs
- Gigs als Aushilfe
- Orchesterarbeit
- Lernen mit Literatur ohne TABs
Hier muss man aber auch graduelle Unterschiede machen, denn “Notenlesen ist nicht gleich Notenlesen”. In einigen Fällen reicht es aus, so genannte Leadsheets interpretieren zu können, auf denen die wichtigsten Angaben zu Form, Ablauf, Akkordfolge, rhythmische Besonderheiten etc. und keine komplett ausnotierte Bassline stehen. (Einen ausführlichen Workshop zum Thema “Bassspielen nach Leadsheets” findet du hier!)
Noten vs. TABs – Pro und Contra
Schauen wir uns zunächst ein paar musikalische Szenarien an, die mit TABs (und eventuell auch ohne diese) und somit ohne Notenlesen bestens funktionieren:
Pro TABs:
- einfache grafische Darstellung, wo Töne gegriffen werden
- keinerlei Vorkenntnisse nötig, auch nicht bzgl. auf Tonnamen
- “barrierefreier” Zugang zu aufgeschriebener Musik
- führt sofort und schnell zu ersten Erfolgserlebnissen und motiviert
Contra TABs:
- auf Saiteninstrumente beschränkt, keine universelle Sprache bzw. Schrift
- funktioniert nur im eigenen Mikrokosmos
- je nach TAB keine bis ungenaue Angaben zu Rhythmus nur Anzahl der Töne im Takt
- meist zusätzliche Hörvorlage nötig
- falls genaue rhythmische Angaben, muss man diese auch lesen können, was bereits der halbe Weg zum Notenlesen ist
- macht es deutlich schwieriger, wiederholende Muster wie Skalen, Pentatoniken, Akkorde etc. zu finden und auf andere Situationen zu transferieren
- “nur” eine eindeutige Angabe von Position am Bass (Saite und Bund)
- “Wie spielt es sich und klingt es für mich am besten?” – eigene Beschäftigung mit Griffbrett und Erarbeiten eines individuellen Fingersatzes entfällt
Pro Notenlesen:
- exakte Darstellung von Rhythmik und Tonhöhe
- durch grafische Darstellung der Tonhöhen auf den Treppen der Notenlinien lassen sich Muster gut erkennen und übertragen
- einfacher und universeller Austausch mit anderen Musikern
- unabhängig vom Instrument
- eröffnet Zugang zu deutlich mehr musikalischen Möglichkeiten oder Jobs/Gigs
- man wird “gezwungen”, sich intensiver mit eigenem Instrument auseinanderzusetzten und den für sich selbst optimalen Fingersatz zu suchen
Contra Notenlesen:
- deutlich schwieriger zu erlernen als TABs
- längerer Prozess, bis man halbwegs flüssig lesen kann
- Herausforderung: Tonhöhe, Rhythmik und Übertragung auf dem Griffbrett in Einklang bringen, bei TABs ist Tonhöhe und Position auf Griffbrett bereits vorgegeben
Noten vs. TABs – Fazit
Wie bereits erwähnt, ist die Fähigkeit, Noten lesen zu können, nicht zwangsläufig eine Voraussetzung für das Spielen eines Instruments. Gerade in Rock, Metal, Pop, Funk, Soul,etc. gehört es ganz sicher nicht zu den Dingen, die man zwingend beherrschen muss. Als Beispiel dafür dienen zahlreiche berühmte Musiker und Musikerinnen, die auch nach Jahrzehnten im Business und hunderten Millionen verkauften Platten immer noch nicht Noten lesen können. Es ist ja auch nicht so, dass man zwingend “mehr Spaß” an der Musik damit hätte.
Allerdings: Sobald man die Komfortzone des eigenen Mikrokosmos verlässt, gibt es keine TABs mehr, sondern nur die universelle Schrift der Noten. Kein Musical-, Bigband- oder Orchester-Arrangeur wird jemals eine Bassstimme in TABs aufschreiben! Wer sich also die Mühe macht, das Notenlesen zu erlernen, erweitert damit ohne Frage seinen musikalischen Horizont und eröffnet sich Zugang zu vielen neuen musikalischen Situationen und Jobs (also Gigs), die einem bisher verwehrt blieben. Wenn dies der eigenen Zielsetzung entspricht, wird man um das Erlernen des Notenlesens kaum herumkommen!
Bis zum nächsten Mal, euer Thomas Meinlschmidt